Johanneken von Troisdorf: 1287-1987
(General-Anzeiger Bonn/Rhein-Sieg, 1987)
700 Jahre ist es jetzt her, dass ein Junge aus Troisdorf ermordet worden sein soll - angeblich von einem Juden. Die Geschichte vom "Johanneken" von Troisdorf hat allerdings einige Haken: Es fängt an bei der Jahreszahl 1287 und hört auf bei der Frage, ob überhaupt jemand ermordet wurde und dazu noch von einem Juden. Anlässlich der Ausstellung "Juden an Rhein und Sieg" (1983) ist Kreisarchivar Heinrich Linn dem Thema nachgegangen. Der Kriminalfall "Johanneken" - egal, ob es einer war oder nicht - ist ein bezeichnendes Kapitel in den schlechten Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden. Die Geschichte, wie sie überliefert wird, ist schnell erzählt: Johanneken, auch: Johänneken oder Johännchen, dessen Alter unbekannt ist, wird auf seinem Schulweg von Troisdorf zum Minoritenkloster in Seligenthal von Juden abgefangen, mit mehreren Messerstichen getötet und beim Haus "Zur Mühlen" verscharrt. Die Leiche wird später von Schweinen aufgewühlt. Auf die Nachricht des Schweinehirten hin holt die Mutter die Leiche ab und lässt sie auf einem Pferdekarren nach Troisdorf bringen, wo Johanneken bestattet werden soll ... Ist sie wahr ?
Diese Lesart wird im 17.Jahrhundert verbreitet, also knapp 400 Jahre später; als Motiv wird den jüdischen Tätern etwas vage Hass auf den christlichen Glauben unterstellt. Aber erst 1837 berichtet ein aufgeklärter Bewohner des Hauses "Zur Mühlen" mit Empörung über den finsteren Aberglauben von Zeitgenossen, die Juden hätten Johanneken, "um Christenblut zu bekommen, aufgefangen und mit einem Messer ermordet." Spätestens zu diesem Zeitpunkt also, wahrscheinlich aber schon vorher, war die Geschichte zu einem der "Schauermärchen" (F.Graus) von den jüdischen Ritualmorden geworden: 300-mal seit dem 12.Jahrhundert sind einzelne Juden oder die Juden allgemein beschuldigt worden, einen Christenmenschen - meist Kinder - qualvoll mit Messern getötet zu haben. Die bekanntesten Beispiele sind Werner von Bacharach und Simon von Trient. Kein einziges Mal konnte einem Juden ein solcher Mord nachgewiesen werden. Die unterstellte Absicht, nämlich Blut zu bekommen, ist für den Eingeweihten zudem völlig absurd: Nach jüdischem Glauben verunreinigt Blut, auch tierisches, jeden Gegenstand oder jede Person. Die offizielle Kirche, d.h. auch der Papst, ist mehrfach entschieden gegen diese Beschuldigungen vorgegangen. Aber mit verblüffender Zähigkeit haben sich solche Ritualmord-Legenden im Volksglauben gehalten: Noch 1836 glaubten manche Düsseldorfer, dass Juden einen vierjährigen Jungen aus dem oben genannten Motiv ermordet hätten.
Offensichtlich sind in der mündlichen Überlieferung der Bevölkerung im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Einstellungen zu einer Gesamthaltung zusammengeflossen:
- Eine religiös begründete feindliche Einstellung gegenüber den Juden, belegbar spätestens seit den Kreuzzugs-Pogromen im Sommer des Jahres 1096, als 4.000 bis 5.000 Juden in den Städten am Rhein ermordet werden;
- erhebliches Misstrauen gegen den Rückzug der Juden in das Getto;
- abgrundtiefer Hass aufgrund vielfacher wirtschaftlicher Abhängigkeit von "dem Finanzjuden";
- die Unfähigkeit, wirtschaftliche, soziale und auch naturwissenschaftliche Vorgänge mit dem Verstand zu erklären und zu begreifen;
- nicht zuletzt der Glaube an magische Kräfte des Blutes.
Am Ende standen der leichtfertige Vorwurf, Juden seien die Mörder, und der Mord an den Juden. So geschehen auch in Siegburg am 4.September 1287, als 18 Juden, deren Namen überliefert sind, ermordet wurden. Diese Judenverfolgung stand vielleicht in Zusammenhang mit Ritualmordbeschuldigungen, die in dieser Zeit in Deutschland zahlreich sind. Wenn "Johanneken" eine historische Figur war, dann ist der Mord in dieses Jahr zu legen. Es ist aber nach LINN "nicht ganz auszuschliessen", dass es nie ein Johanneken gegeben hat, keinen Mord, erst recht keinen jüdischen Täter.
Die Quelle des 17.Jahrhunderts, die recht knapp von Juden spricht, ist nämlich viel ausführlicher, als es um die Fortsetzung geht:
... Auf dem Weg von Seligenthal nach Siegburg scheut das Pferd, das Johanneken nach Troisdorf bringen soll, und bleibt stehen. Der tote Junge streckt seine Hand aus dem Sarg und weist auf den Siegburger Abteiberg. Der davon benachrichtigte Klerus von Siegburg geleitet den Leichnam in die Abteikirche zur Beisetzung neben das Grab des Erzbischofs Anno. Dort und später in der Servatiuskirche sollen noch im 19.Jahrhundert Reliquien und sogar das Mord-Messer aufbewahrt worden sein. Daraus wäre zu schliessen, dass zunächst der Gedanke des Ritualmordes nicht vorhanden war oder zumindest nebensächlich war; dass im Vordergrund die Verehrung von Reliquien stand. Erst in der Verbindung mit ähnlich gelagerten Ereignissen ist aus der oben skizzierten Haltung der Ritualmord an Johanneken zusammengesetzt worden.
Also wäre der Kriminalfall "Johanneken" eine "völlig frei erfundene Legende" oder eine "Wanderlegende", nur dazu da, in der Bevölkerung den Abscheu gegen die Juden wachzuhalten.