Tritt ein zu mir
In meinen Palast
Gönn dir die Ruhe
Eine kurze Rast
Im Turm meines Schlosses
Wirst den Augenblick finden
Bücher beschrieben
Vorne und hinten
Jeder Buchstabe birgt seine Geschichte
Voll an Märchen und Fabeln
Wortspiele, Gedichte
Nimm dir die Zeit
Sollst die Märchen entwirren
Die tanzenden Lettern
Zu ihrem Ort hin sie schwirren
Sie tragen Gefühle, Fragen, Gedanken
Stellen dich vor Rätsel
Und lassen dich tanken
Den Brennstoff der Phantasie
Viel zu lang du entbehrtest
Und fühltest doch nie
Mein Schloß ist so leer
Sah so lang aus dem Fenster
Nur endlose Weiten
Nebel, Gespenster
Gefangen im Kerker
Hungernd nach Freude
Bitte öffne die Schranken!
Noch heut sei das Böse
Vom Guten besiegt
Die Dornhecke biegt
Dürre Zweige zum Durchschlupf
Geschwind tritt herein
Nimm teil an meinem Märchen
Die Ruinen der Burg Vorderhohenschwangau und der Sylphenturm wurden
1868 komplett abgebrochen, die Reste des alten Bergfrieds
gesprengt.[33] Die Bauarbeiten am Torhaus begannen im Februar 1869,
die Grundsteinlegung für den Palas erfolgte am 5. September
1869.[34] In den Jahren 1869 bis 1873 wurde der Torbau fertig
gestellt und vollständig eingerichtet, so dass Ludwig hier
zeitweilig wohnen und die Bauarbeiten beobachten konnte. 1874
übernahm Georg von Dollmann die Leitung der Baumaßnahmen von Eduard
Riedl.[35] Im Jahr 1880 war Richtfest für den Palas, der 1884
bezogen werden konnte, im selben Jahr ging die Bauleitung an Julius
Hofmann über, der den in Ungnade gefallenen Dollmann ablöste.
Das Schloss wurde in konventioneller Backsteinbauweise errichtet
und später mit anderen Gesteinsarten verkleidet. Der weiße
Kalkstein der Fassadenflächen stammt aus dem nahe gelegenen
Steinbruch Alter Schrofen.[36] Die Sandsteinquader für die Portale
und Erker stammen aus Schlaitdorf am Schönbuchrand in Württemberg.
Für die Fenster, die Gewölbebogenrippen, Säulen und Kapitelle wurde
Untersberger Marmor aus der Gegend von Salzburg verwendet. Für den
nachträglich in die Pläne eingearbeiteten Thronsaal musste ein
Stahlgerüst eingezogen werden. Um den Transport der Baumaterialien
zu erleichtern, wurde ein Gerüst errichtet und ein Dampfkran
aufgestellt, der das Material zur Baustelle heraufzog. Ein weiterer
Kran sorgte für Erleichterung auf der Baustelle selbst. Der damals
neu gegründete Dampfkessel-Revisionsverein, der spätere Technische
Überwachungsverein TÜV, überprüfte regelmäßig diese beiden Kessel
auf ihre Sicherheit.
Die Großbaustelle war etwa zwei Jahrzehnte lang der größte
Arbeitgeber der Region.[34] 1880 arbeiteten täglich rund
200 Handwerker auf der Baustelle,[37] nicht berücksichtigt
Lieferanten und andere indirekt am Bau beteiligte Personen. Zu
Zeiten, als der König besonders enge Termine und dringende
Änderungen forderte, sollen es sogar bis zu 300 Arbeiter pro
Tag gewesen sein, die auch in der Nacht beim Schein von Öllampen
ihren Dienst taten. Statistiken aus den beiden Jahren 1879/1880
belegen eine immense Menge an Baumaterialien: 465 Tonnen
Salzburger Marmor, 1550 Tonnen Sandstein,
400.000 Ziegelsteine und 2050 Kubikmeter Holz für das
Baugerüst.
Sehr modern war die 3. April 1870 gegründete soziale Einrichtung
„Verein der Handwerker am königlichen Schlossbau zu
Hohenschwangau“. Der Zweck des Vereins war, bei geringen
eigenen Monatsbeiträgen und verstärkt durch erhebliche Zuschüsse
des Königs, für erkrankte oder verletzte Bauarbeiter eine
Lohnfortzahlung zu garantieren. Die Baufirma bürgte, ähnlich einer
heutigen Sozialversicherung oder Berufsgenossenschaft, für das
Gehalt über 15 Wochen gegen einen Betrag von 0,70 Mark.
Für die Nachkommen derjenigen, die beim Bau tödlich verunglückten,
gab es eine Rente – zwar niedrig, aber zur damaligen Zeit
nicht üblich. Statistiken berichten von 39 Familien, denen diese
Rente zugesprochen wurde, was für damalige Bauten und deren
Arbeitsbedingungen auffällig wenige sind.